Bocht
von Lisa Luchs
Kalt ist es. Es zwickt an der Nase wie ein Krebs im Sommer in rosa Kinderzehen zwackt. Dabei ist es Winter. Nicht der schönste, aber ausreichend kalt um das bisschen Schnee am Tauen zu hindern und glitzernden Raureif an die Äste der nackten Bäume zu zaubern. Es wäre eine Freude für Groß und Klein, wenn sich Frau Holle heute am Heiligen Abend dazu entschließen könnte, kräftig die riesigen, weißen Kissen zu schütteln. Die Kinder hoffen darauf, viele Erwachsene auch.
Nicht so Herr Bocht. Läge Schnee, würde er aufgrund von nervenaufreibenden Verkehrsbehinderungen noch mehr in Verzug geraten, als er es ohnehin schon war. Eigentlich wollte er nach dem Geschäftsfrühstück mit seinen Agenturpartnern schon um 10 Uhr 20 am Einkaufszentrum sein, um einen Kunstweihnachtsbaum zu kaufen. Da jedoch die Verträge mit einem führenden Waschmittelhersteller noch der Bearbeitung bedurften, zog sich der Termin in die Länge. Herr Bocht war am Heiligen Abend nicht unbedingt erfreut über diese Verspätung, aber Geschäft ist Geschäft. So war es nun einmal.
Zügig fuhr er auf den Parkplatz des Centers und ärgerte sich über eine Familie mit voll bepackten Einkaufs- tüten, welche seiner Meinung nach unnötig langsam die Straße überquerte. Die müssen Zeit haben, dachte Herr Bocht. Hastig betrat er die Halle und musste unerfreut feststellen, dass Plastikweihnachstbäume schon seit mehreren Tagen ausverkauft waren. Das würde seiner Frau gefallen. Nörgelte Sie doch schon die ganze Woche, er solle sich rechtzeitig um den Baum kümmern. „Ich hab es ja geahnt!“ hörte er Frau Bocht ungehalten in seinem Kopf zetern. Trotzdem blieb ihm nichts anderes übrig, als an dem Stand vor dem Eingang des überschwänglich geschmückten Einkaufsmarktes nach einem echten, furchtbar nadelnden und unangenehm nach Matschwald riechenden Baum zu suchen. Bei der Auswahl hielt er sich nicht unnötig auf. Wozu auch. So schön und wohlgeformt wie ein Baum der Firma Naturecht konnte er nicht sein. Zumal sich die verschiedenen Exemplare in einem Netz aus Kunststoff versteckten und davor Angst zu haben schienen, in die weihnachtlichen Stuben verschleppt und mit allerlei Klimbim behangen zu werden. Ein schneller Griff, natürlich mit auf den guten Mantel achtender Vorsichtigkeit, und schon war Herr Bocht auf dem Weg zur Kasse. „Das sollte schnell gehen.“ seufzte er. Noch mehr Rückstand im Zeitplan würde ihm seine Frau nur unnötig übel nehmen. Die Schlange bestand aus nur einem Mädchen.
Lene hatte sich am Stand des bärtigen Baumverkäufers nach langer Überlegung endlich für einen schönen, mit Gold verzierten Weihnachtsstern aus Stroh entschieden. Sie hätte den Vormittag lieber damit verbracht, die kleinen Geschenke für ihre Lieben phantasievoll einzupacken. Leider hatte ihr die aufgeregte Vorfreude und damit einhergehende Nervosität ein Missgeschick beschert. Die Treppe zum Dachboden ist so alt und knorrig, dass Lene, bepackt mit Kisten voll Christbaumschmuck, stolperte und der schöne Glasstern herunterfiel. Es gab ein großes Klirren und der Stern lag in Tausend Splittern auf dem Boden verteilt. Er hatte viele Jahre die Baumspitze geschmückt, eigentlich seit Lene denken konnte. Sie war traurig. So traurig, als würde ihr bester Freund in eine andere Stadt ziehen. Ihre Mutter nahm sie in den Arm und versuchte zu trösten. „Alles halb so wild.“ sagte sie. „Dann eben dieses Jahr ohne Stern.“ Von wegen. Lene hing wie alle anderen sehr an dem alten Stück. Da Lene sich aber noch nie lange ärgern konnte, beschloss sie, einen neuen und für immer und ewig unzerbrechlichen Stern zu besorgen.
Da stand sie nun, den Strohstern in der Hand. Der bärtige Alte beglückwünschte sie zu ihrer Wahl, hatte er doch den Baumschmuck selbst durch mühsame Bastelei angefertigt. Lene freute sich und begann ihm von ihrem kleinen Unfall zu erzählen. Der Alte ließ sich wohlwollend auf die Plauderei ein und erzählte ihr von seiner Arbeit an den Strohfiguren. Lene, die selbst gern bastelte, lauschte ihm gespannt.
„Wird das heut noch was?“ hörte sie plötzlich eine missmutige Stimme hinter sich knurren. „Ich hab’ ja nicht ewig Zeit.“ Sie drehte sich um und sah, dass die Beschwerde von einem schwarzbemantelten Mann mit blank polierten Lackschuhen hinter ihr kam. Lene sah ihn erstaunt an und entschuldigte sich vorsichtig. „Das ist mir gleich“, erwiderte er. „Das ist ein Verkaufsstand und kein Stuhlkreis. Ich möchte jetzt zahlen.“ Lene fühlte sich eingeschüchtert, verabschiedete sich von dem Mann mit Bart und trollte sich ein bisschen geknickt vom Parkplatz. Sie hätte gern noch genauer gefragt, wie man die Sterne basteln kann. Die Schlange war aber inzwischen recht lang und sie sah ein, dass der Verkäufer zu tun hatte.
Herr Bocht beschwerte sich bei dem Alten über den Zeitverlust, die Preise, und gleich auch über das Wetter. Danach packte er den gefesselten Baum in den Kofferraum und sah zu, dass er schleunigst auf die Autobahn kam. Er schaltete das Radio ein um den Börsenbericht nicht zu verpassen. Er verpasste ihn nie. Schließlich muss man seine Investitionen ständig im Auge behalten, gerade an Weihnachten. Schließlich hatte er in der Heiligen Nacht, wenn alle sentimental und selbstvergessen unter dem Baum hocken, schon die besten Geschäfte gemacht.
So fuhr er etwa zehn Minuten gen Norden, als er die Warnsignale der vor ihm fahrenden Autos wahrnahm. Das hat gerade noch gefehlt, dachte er entnervt. Der Stau verstärkte seine eh schon angeschlagene Stimmung und er dachte an Frau Bocht. Sie würde seine Verspätung nicht ohne Vorwürfe hinnehmen. Dabei war die Atmosphäre in der Weihnachtszeit schon angespannt genug.
Lene, die derweil durch den Schneematsch stapfte und damit beschäftigt war, ihren Atemwolken hinterher zu schauen, hatte beschlossen, sich ihre gute Laune von dem Griesgram mit dem Baum nicht verderben zu lassen. Trotzdem fiel es ihr schwer, nicht über ihn nachzudenken. Weshalb ist jemand an Weihnachten so unfreundlich und gemein? Ein Stuhlkreis. So was Dummes. Zwei Leute können doch keinen Kreis bilden. Er schien sich mit geometrischen Formen nicht wirklich auszukennen. Das war nicht weiter schlimm. Nur dass er an einem Tag wie heute so ärgerlich und unfreundlich war, das konnte Lene nicht verstehen. Für sie war Weihnachten schon immer ein Fest der Freude. In den Wochen davor passierten so herrliche Dinge. Wie liebte sie es, mit ihrer Großmutter Plätzchen zu backen. Eigentlich buk sie die Plätzchen eher allein. Die Großmutter war damit beschäftigt, das Chaos, welches Lene veranstaltete, aufzuräumen. Sie tat es aber gern und freute sich, wenn ihr Enkelin wie ein Wirbelwind durch ihre Küche fegte und alles in Unordnung brachte. Nur ganz selten ließ sie sich von ihr beim Abwasch helfen. Dann wanderten Lenes Gedanken zu den vielen Weihnachtsfeiern. In der Schule, im Turnverein, im Freundeskreis, überall wurde gemeinsam gesungen, genascht und gelacht. Hatte denn der Mann mit dem Baum keine Weihnachtsfeiern, die gute Laune machen? Was wird nur seine Familie denken, wenn er so übel gelaunt nach Hause kommt?
Genau darüber dachte Herr Bocht im selben Moment noch immer nach. Der Stau hatte sich bisher nicht aufgelöst. So war er gezwungen, schon vor seiner Ankunft über den anstrengenden Rest dieses Weihnachtstages nachzudenken. Er war gestresst, und das schon seit dem ersten Advent. Es mussten so viele teure Geschenke besorgt werden. Dazu war man verpflichtet, mehr oder weniger liebsamen Verwandten Besuche abzustatten und deren ungenießbare, muffige Weihnachtskekse zu essen. Dann waren da noch die Weihnachtspartys mit diversen Geschäftspartnern. Hier musste sich Herr Bocht immer besonders freundlich verhalten, obwohl er die meisten der Männer und Frauen nicht leiden konnte, sogar noch weniger als Weihnachten. Seine Familie mochte er eigentlich. Nur merkte er es zu dieser Zeit des Jahres nicht wirklich. Seine Frau und die Kinder waren streitlustig und hatten wie er keine Lust auf diesen Tag. Die Familie war sich darüber einig, dass Weihnachten eigentlich ein unnützes und langweiliges Fest ist. Trotzdem feierten sie es alle Jahre wieder. Weshalb, das wussten sie selbst nicht genau. Am allerwenigsten wusste es Herr Bocht.
Lene bog gerade in ihre Straße ein. Den Mann vom Weihnachtsbaumverkauf hatte sie inzwischen völlig vergessen. Zu groß war die Vorfreude auf den Abend. Sie hatte schon die Lieder auf den Lippen, welche die Familie gemeinsam singen würde. Die Bescherung wurde immer so lang wie möglich hinausgezögert. Schließlich waren die Geschenke nicht das Wichtigste am heiligen Abend. Vielleicht waren sie das für ihren kleinen Bruder, nicht aber für Lene. Sie fand es viel wichtiger alle beisammen zu haben, auch die großen Geschwister, welche weit weg von ihr wohnten. Nach dem Stollen am Nachmittag gingen sie spazieren, spielten Rommé oder erzählten sich, was in den vergangenen zwölf Monaten schön oder auch schwierig zu bewältigen gewesen war.
Wenn dann nach dem Abendbrot und weiteren Liedern die Geschenke verteilt wurden, kam für Lene jedes Jahr ein besonderer Moment. Jedem, dem sie ihr Geschenk gab, flüsterte sie ins Ohr, wie lieb sie ihn hat. Das traute sich Lene nur an Weihnachten. Weshalb das so war, wusste sie nicht.
Inzwischen hatte Herr Bocht den Stau hinter sich gelassen und die Villa der Familie erreicht. Das automatische, große Hoftor öffnete sich mit einem hässlichen Knarren. Er lenkte seinen Wagen die Einfahrt hinauf und fuhr in die Garage ein. Vor sich hin murmelnd hob er den Christbaum aus dem Kofferraum und nahm sogleich eine große Schere zur Hand. Er zerschnitt das Netz und faltete den Baum auseinander. Ich hab es doch geahnt, dachte er genervt und vielleicht sogar ein bisschen zufrieden. Der Baum war krumm und schief gewachsen. Die Spitze hatte einen leichten Knick und verlieh dem Gewächs ein etwas lädiertes Aussehen. Herr Bocht war noch nicht ganz aus der Garage, als er seine Frau von der Haustür her ungehalten nach ihm rufen hörte. Er hatte es nicht anders erwartet und machte sich seufzend auf den Weg ins Haus…
Inzwischen hatte Lene die Gartentür geöffnet und bewunderte zum hundertsten Mal in diesem Monat die wunderschön geschmückten Fenster. Sie staunte darüber wie ihre Mutter es hinbekam, dass es jedes Jahr ein bisschen anders aussah und trotzdem die gleiche, wohligwarme Stimmung in ihr weckte. Sie schritt auf die Haustür zu, den Baumschmuck stolz in der rot gefrorenen Hand. Sie drückte den Klingelknopf und hielt sich lachend den Strohstern vors Gesicht…
Foto: ©AndreasF. / photocase.com Für einen Last-Minute-Strohstern:
Halbiere zwei Halme Bastelstroh in vier gleich lange Stücke.
Lege jeweils zwei Stück kreuzförmig übereinander. Die Halme in der Mitte etwas flach drücken.
Mit den beiden anderen halbierten Halmen genauso verfahren.
Lege dann beide Kreuze versetzt übereinander und halte sie am Mittelpunkt zusammen.
Dann wird etwas Zwirn erst über den oberen Halm, dann abwechselnd unter und über die anliegenden Halme gelegt. Knote die Fäden zusammen und festige alles mit Doppelknoten.
Schräge die Spitzen des Stern etwas mit der Schere ab.
Ein einfacher Stohstern ist entstanden.
Damit er noch schöner wird, fertige noch einen weiteren Stern an.
Lege die beiden versetzt übereinander und lege den Faden nochmal abwechselnd von Halm zu Halm, um beide Sterne zusammen und knote alles gut fest.
Wenn du den Strohstern aufhängen willst, lass den Faden länger und knote ihn zu einer Schlaufe.
Wir hoffen, dich jeden Tag mit einem kleinen Überraschungstürchen erfreut zu haben! Danke für alle lieben Kommentare und vielen herzlichen Dank für die Spenden!Wir wünschen ein wundervolles Weihnachtsfest!